Der Erste Schritt

Es ist der Anbruch des vierten Tages unseres Südamerika Abenteuers. Der Großteil unserer bisherigen Erfahrungen entspricht bei Weitem nicht unseren Erwartungen. Schon die Ankunft, von den Einreiseproblemen aus den USA mal abgesehen, war sehr ernüchternd. Lima erinnert eher an die Slums Ägyptens, als an eine ehemalige Inka-Stätte.

Unser erster Eindruck von Lima

Foto: Kataleya von Rosenberg | Bearbeitung: https://pkfotografie.com

Der Amerikaner und Europäer ist in Infrastruktur, Nahrungsmittelangebot und Werbeengagement allzeit präsent und die Reichtümer Perus, insbesondere der Dschungel, die beeindruckende Küste, die Berge, die Rohstoffvorkommen und die Jahrtausende alte Kultur scheinen hinter dem Herrn „Geld“ zu verschwinden. Die Menschen in Lima tragen die gleichen Gesichter wie in jeder Großstadt. Man könnte diesen Ausdruck galant als „genervte Fressen“ bezeichnen. Schicke Klamotten, Fernseher, Internet und der zweitwichtigste Gott „Handy“ sind ebenfalls allzeit präsent. Wie sollte es auch anders sein, in einer Großstadt mit acht Millionen Einwohnern, in der schon seit mehreren Jahrzehnten unsere westliche Kultur Einzug erhalten hat. Natürlich nur zum Wohle der damals so „primitiven und hilfsbedürftigen“ Menschen. Endresultat ist eine immense Kluft zwischen Arm und Reich. Man findet heruntergekommene Slums die teilweise abgesperrt werden vs. strahlende Villenviertel, welche ebenfalls durch Schranken und Zäune abgeriegelt sind. Der Rest der Bevölkerung, der weder in die eine noch in die andere Kategorie hineinpasst, darf die Schranken der Villenviertel nur dann passieren wenn er dort fleißig putzt und baut und die „Gitter der Armenviertel“ „darf“ er durchschreiten, wenn er dort für Ruhe sorgt. Und somit ist dieser ganz normale Mensch das Bindeglied zwischen zwei sich völlig entgegengesetzten, aber vielleicht gar nicht so fremden Polen. Denn laut der Meinung vieler Einheimischer ist das berühmte „Unter-der-Nase-Wegklauen“ beiden gar nicht so fremd. Und eben jenes erwähnte Bindeglied darf zwar Schulen besuchen, jedoch scheint auch hier das Leeren das Lehren ersetzt zu haben. So zumindest wurde es uns von Percy erzählt. 

Percy ist ein 50jähriger Peruaner, der zwanzig Jahre lang versuchte das gelobte Land USA zu erreichen um wahres Glück zu finden. Nachdem er seinen Traum realisiert hatte, indem er für die Glaubensgemeinde Hare Krishna als (und ich zitiere!) “Sklave in der Küche arbeiten durfte“. Die versprochene Bezahlung blieb selbstverständlich aus, aber es gab ja Unterkunft und Verpflegung als Entschädigung zur Verfügung gestellt, welche er in seiner Freizeit von 22:00 Uhr bis 04:00 Uhr morgens nutzen konnte. Nachdem er zehn Jahre lang das Auflösen seines lebenslangen Traumes durchlebt hatte, kehrte er in seine Heimat Peru zurück. Jetzt lebt er bei seiner Familie in Punta Hermosa, an der Westküste Perus und arbeitet wieder als einfacher Fischer. Und so schloss sich sein Erfahrungskreis. Man könnte meinen er sei am selben Punkt angekommen an dem er sein Land verlassen hatte, nämlich als einfacher Fischer.
Doch bei genauerem Hinsehen muss jedem vernünftigen Menschen klar werden, dass dies zwar rein materiell betrachtet der Wahrheit entspricht, aber aus der Sicht der inneren Transformation des Wesens Percys niemals so sein kann. Beweis dafür ist seine Antwort auf meine Frage:
„Was war die schönste Erfahrung deines Lebens?“ 
welche lautete:

“Meine Reise in die USA!“ 

Nach allem was er uns erzählt hatte schien diese Antwort völlig absurd, doch die folgenden Worte brachten Licht ins Dunkle meines Verstehens. 

“Die Reise in die USA war meine schönste Erfahrung aufgrund der Desillusionierung. Mein ganzes Leben lang bin ich diesem Traum nachgerannt und als ich ihn durchlebt hatte erkannte ich plötzlich wie leer er war. Nachdem ich mich von der Hare Krishna Gemeinde löste und begann mein eigenes Geld zu verdienen, besaß ich eine eigene Wohnung und zwei Autos im wunderschönen Miami, Florida. Ich hatte Geld für gute Kleidung und um in anständigen Restaurants essen gehen zu können. Doch eines hatte ich nicht. Glück! Ich war nicht glücklich. Jetzt wo ich wieder zu Hause bin und fischen darf, Zeit mit meiner Familie und Hunden verbringe und die Freiheit habe schöne Unterhaltungen wie diese hier führen zu können, bin ich glücklich! Aber ohne die damalige Desillusionierung wäre ich es jetzt wahrscheinlich nicht. Deswegen war die Reise in die USA der schönste Moment meines Lebens.“

Diese Erkenntnis zeigt das Percy, anhand der Maßstäbe eines vernünftigen Menschen gemessen bei Weitem nicht mehr am selben Punkt stand an dem seine Reise begann. Er war nicht weiter als vorher, aber höher. Mögen doch alle von uns irgendwann das Glück haben desillusioniert zu werden.


‹Manchmal kommt man nicht weiter, aber höher!›


Der ein oder andere wird sich jetzt vielleicht fragen was all das Gelaber mit dem Barfußgehen zu tun hat. Ganz ehrlich…keine Ahnung! Nein, …Spaß bei Seite. Das Thema dieses ersten Kapitels lautet passenderweise „Der erste Schritt“ und aus diesem Gesichtspunkt möchte ich die Erlebnisse auch betrachten.

Jede Reise beginnt mit dem Ersten Schritt. Ohne Schritt keine Reise. Und eben jener Erste Schritt beinhaltet eine Fülle möglicher Erfahrungen, die in diesem Blog beleuchtet werden sollen. So enthält der Erste Schritt zum Beispiel einerseits die freudige Erwartung neuer Erfahrungen und andererseits das ängstliche Zittern Altbekanntes zu verlassen. Er ist die Vermählung des Risikos des Ungewissen mit dem „schützendem Zauber des Anfangs“. Und ebenfalls enthält derselbe Erste Schritt die Verwirklichung eines lang gehegten Traumes auf der einen Seite und die oftmals bittere Pille der Realität auf der anderen. Er enthält zeitgleich Illusion und Desillusionierung. Und jeder der schon einmal bewusst einen Ersten Schritt in unbekanntes Terrain gewagt hat und sich die Freiheit nahm diesen Traum des Neuen mit den buntesten Farben zu schmücken, wird, wie es Percy und uns erging, den schmerzlichen Arschtritt der Realität zu spüren bekommen haben.

Egal ob sich Percys Traum der Freiheit in einen Alptraum der Sklaverei wandelte oder ob sich unser Traum eines grünenden und blühenden, naturbelassenen Inka Perus als ein Alptraum aus staubiger, stereotypischer Großstadt entpuppte, beinhalten beide in ihrer Essenz den Ersten Schritt mit all seinen Licht- und Schattenseiten. Klar muss uns allen sein, dass wir selbst durch unsere oft subjektive Sichtweise Licht- und Schattenseiten schaffen, denn der Erste Schritt ist und bleibt immer genau das was er ist, nämlich einfach der Erste Schritt. Und so sind natürlich auch alle zuvor beschrieben Ereignisse eingefärbt durch meine Brille der Subjektivität.

Es wäre gut möglich gewesen, dass, wenn uns ein rosa Einhorn am Tag unserer Ankunft in Lima um 22:00 Uhr vom Flughafen abgeholt und den ganzen Weg zum Hostel geflogen hätte, die verstaubten und mit Müll zugepackten Straßen aus diesem erhabenen Blickwinkel ganz objektiv ihren eigenen besonderen Charme auf uns ausgeübt hätten. Aber da wir müde, hungrig und schmutzig nach 55 Stunden Reisedauer bei tiefster Dunkelheit in der wahrscheinlich schlimmsten Gegend Limas angekommen sind und diese barfuß durchquert haben war unser Geist für diese Art von Schönheit einfach nicht aufnahmebereit. Unsere Ersten Schritte in diesem Land bestanden somit größtenteils daraus während des 3km langen Fußmarsches ohne Sprachkenntnis, Navigationssystem oder Internet (ein Alptraum an sich für uns Großstädter) den schnellsten Weg zum Hostel zu finden und dabei möglichst nicht in die im Überfluss vorhanden Hundehaufen zu latschen. Unter diesem Gesichtspunkt sollte alles zuvor beschriebene als eine ganz persönliche und damit subjektive Erfahrung gesehen werden, welche sich so schnell wandeln kann wie die Gemütszustände des Erfahrenen selber. Die Essenz einer jeden Erfahrung, eines jeden Dings, einer jeden Handlung muss jedoch immer die gleiche bleiben, vollkommen unabhängig von äußeren Gegebenheiten. Wenn wir also einen Ersten Schritt machen, wenn wir es wagen aus unserer Komfortzone heraus zu treten, wenn wir unseren eigenen Weg antreten, dann wissen wir niemals was uns alles erwartet. Den Ersten Schritt wagen bedeutet immer Unklarheit und Risiko, da nichts im Leben jemals genauso kommt wie wir es erwartet hatten. Aber wie bereits erwähnt ist dieser Erste Schritt der Beginn einer Reise. Einer jedweden Reise. Das Wort Reise bedeutet für mich Entwicklung, Evolution, Fortschritt. Es muss keine Reise zu irgendwelchen physischen Orten sein. Es kann eine Reise nach innen, eine Reise zu sich selbst sein. Es ist völlig gleichgültig wohin jeder von uns reist. Ob nach Südamerika, nach Tibet in ein Kloster, zu seinem Traumberuf, zur Millionenidee, zur Gründung einer Familie, zur Erleuchtung, oder zur Rettung der, vom Aussterben bedrohten Mutschi-Mutschi Fliege in Bandar-Seri-Begawhan, alle diese ganz persönlichen Reisen haben in ihrer Essenz ein und das selbe gemeinsam: den Ersten Schritt. Wir müssen uns wagen die Reise zu beginnen. Wir müssen uns trauen Liebgewonnenes und Bekanntes hinter uns zu lassen. 

Der Erste Schritt

Foto: Kataleya von Rosenberg | Bearbeitung: https://pkfotografie.com

Wir müssen es tun! Wir müssen den Ersten Schritt tun um unserer Entwicklung willen!
Wir alle sind uns selbst und der Welt den Ersten Schritt schuldig.


Denn dafür sind wir hier. Um voran zu schreiten. Der Erste Schritt ist der Urschritt. Er symbolisiert den Beginn allen Schaffens, aller Entwicklung, aller Evolution. Alles was wir sehen können in dieser Welt wagte zu irgendeinem Zeitpunkt den Ersten Schritt und entwickelt sich seit jeher. Selbst das Universum als Ganzheit, egal wie wir es taufen, musste irgendwann diesen Ersten Schritt, den Urschritt, wagen. Und wie auch wir konnte ES nicht absehen was passieren würde. Aber jener Urschritt enthielt das gesamte Potential für jeden darauffolgenden Schritt. Genauso wie unser persönlicher Erster Schritt das gesamte Potential all unserer darauf folgenden Schritte enthält. Ob wir dieses Potential jedoch tatsächlich nutzen hängt einzig und allein von uns selber ab. Denn als Menschen haben wir alle die Freiheit geschenkt bekommen selbst entscheiden zu dürfen ob wir stehen oder gehen. Und so stell ich dir, lieber Leser, die Frage: 

Stehst Du oder gehst Du?


Der nächste Schritt…

Begleitet uns im nächsten Schritt in die wundervolle Stadt Lunahuana, welche umgeben von kahlen Bergen am Ufer eines großen, aus Gletschern entspringenden Flusses liegt. Hier ergründen wir gemeinsam wie der Risikoreiche Schritt unser ständiger Freund und Lehrer auf unseren Wegen zu uns selbst ist.

9 Replies to “Der Erste Schritt”

  1. Lieber Peter,

    wie wundervoll es doch ist, dass Du uns gefunden hast. 😀 Die Welt ist eben doch ein kleines Kuhdorf! 😉
    Tatsächlich habe ich Dein Buch „GODO“ zwei Wochen vor unserer Abreise lesen können. Ich bin rein zufällig im Klappentext eines anderen Buches („Die Indigo Schulen Chinas“) darauf gestoßen. Und was ich laß, bestätigte so viele der Erfahrungen, die wir während der zwei barfüßigen Jahre zuvor sammeln konnten. Viele der in dieser Zeit entstandenen Gedanken und Erkenntnisse korrespondieren so hervorragend mit Deinem GODO.
    Ich hoffe wir finden irgendwann die Zeit, unsere Erfahrungen persönlich austauschen zu können. Bis dahin wünsche ich Dir, dass es Dir gut er-geht und freue mich darauf gemeinsam mit Dir, von doch etwas unterschiedlichen Enden, am gleichen Strang ziehen zu können. 😉

    Viele liebe Grüße,

    Jonathan

  2. Very very very happy GODO !!!!!!!
    F.Struck hat mir von Eurem Abenteuer berichtet:
    Jetzt gehe GODO um die Welt.
    Ich erfreue mich an Euch, bin tief im Herzen bewegt und wünsche Euch fröhliche Füße!!!!!
    DANKE !!
    Peter Greb

  3. Passt schön auf Euch auf ihr Lieben. Drück Euch dolle! Haltet uns weiter so schön auf den Laufenden!

  4. Eure Worte haben uns tief berühert, klasse Fotos und wunderschöne Ferse. Einfach super. Macht weiter so, wir werden alle Eure Schritte verfolgen und wünschen Euch viel Glück auf Eurem Weg.
    ZweiBergWanderer

  5. Wunderwunderschön der erste Artikel über eure Reise. Lässt einem gleich noch mehr über das Leben nachdenken. Viel Spaß, Erfolg, Freude, Liebe und Glück wünsche ich euch noch.

  6. Super Fotos, super Artikel. Fesselnd geschrieben und wunderbare Ferse. Macht weiter so und viel Glück bei allen Schritten. Wir verfolgen alles. Die Daheim Gebliebenen

  7. Super Artikel! Weiterhin viel Mut und Erfolg wünschen euch beiden k.b./ l.b.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.