Der Unbeschwerte Schritt

Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich mir so sehr gewünscht, ich könnte mittels Gedankenkraft Wolken verschwinden lassen. Ich erinnere mich an das Buch „Illusionen“ von Richard Bach, in dem ihm sein Meister Donald Shimoda lehrt, Wolken verschwinden zu lassen und unter Wasser zu atmen. Beide Fähigkeiten würden Kata und mir jetzt sehr zu Gute kommen.
Als ich diese Zeilen schreibe, sitzen wir beide gerade in einer Holzhütte auf 1000m Höhe und warten darauf, dass dieser sintflutartige Regen endlich aufhört. Seit mittlerweile 24 Stunden regnet es bereits und anhand dessen, dass ich nicht weiter als 20m aus dem Fenster schauen kann, schätze ich, dass es wohl noch eine Weile andauern wird.

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Foto: Kataleya von Rosenberg | Bearbeitung: https://pkfotografie.com

So romantisch ein verregneter Frühlingstag in einer verlassenen Berghütte auch klingen mag, so romantisch fühlt er sich für uns mit nichten an. Das liegt weniger am Regen, sondern viel mehr an der ständigen Kälte. In der Hütte sind circa 2°C und es besteht keine Möglichkeit ein gemütliches Feuer zu machen. Das heißt, wir haben uns in unsere Schlafsäcke verkrochen und warten auf den herannahenden Abend samt frostiger Nacht. Vor dieser graut es mir ein wenig, denn trotz Schlafsack und dicken Sachen frieren wir. Ich bezweifle, dass es über Nacht besser werden wird. Die Temperaturen fallen hier stark ab. Das haben wir letzte Nacht bereits ganz deutlich gemerkt. Und da sind wir wohl gewärmt von einem Lagerfeuer ins Bett gestiegen. Am nächsten Morgen sind wir dennoch stocksteif aufgewacht. Ausgehend von den zahlreichen neu entstandenen Flüssen rund um die Hütte denke ich, dass das Lagerfeuer heute wohl ins Wasser fällt. Gerne würden wir mal aufs Klo gehen, doch auch das scheint uns heute nicht vergönnt. Das liegt zum einen daran, dass es kein Klo gibt und zum anderen daran, dass wir noch genau ein Paar trockene Klamotten haben und die tragen wir gerade. Ein Toilettengang würde unweigerlich zum Verlust des letzten Stückes trockenen Stoffes führen. Das ist die berühmte Wahl zwischen Pest oder Cholera, bei der man es oft dem Reh vorm herannahenden Auto gleichtut und einfach dumm dasteht und wartet was passiert. Das Resultat dieser Entscheidungslosigkeit kennt man ja. Deshalb entschieden wir uns, die Bedürfnisse unseres lebenserhaltenden Wärmehaushaltes über die nicht ganz so essentiellen Bedürfnisse unseres Magen-Darm-Traktes zu stellen und verharren weiter im Haus. Während ich also hier liege und die sintflutartigen Ergüsse des Lebens bestaune und abwäge, ob es sinnvoll wäre mit dem Bau einer Arche zu beginnen, erwächst in mir der Drang, meinen deutschen Genen Ausdruck zu verleihen und MICH MAL RICHTIG ORDENTLICH ZU BESCHWEREN! Da will man einmal wandern gehen und genau dann pisst es ohne Unterlass! Bis auf das, was wir am Leibe tragen, ist alles nass. Es ist arschkalt und nachts wird’s arschkälter. Wir müssen aufs Klo, doch es regnet in Strömen und dann wäre der Arsch nur noch kälter! Des Weiteren besteht nicht einmal mehr die Möglichkeit den Abstieg in wärmere Gefilde zu wagen, da es bereits 18 Uhr ist und der Abstieg ca. 3 Stunden dauern. Der Pfad ist sehr steil und war auf dem Weg nach oben bereits schlammig und rutschig. Wie es nach 24 Stunden Regen aussieht, will ich mir gar nicht vorstellen. Zusätzlich kommen 50 kg Gepäck hinzu. Kurz und knapp… Abstieg bei diesem Wetter um diese Uhrzeit ist ausgeschlossen. Was uns also bleibt, ist auf ein besseres Morgen zu warten und etwas zu schreiben. Je kälter meine Finger jedoch werden, umso stärker wird mein Drang mich zu beschweren. Aber ich darf mich nicht beschweren! Ich WILL mich nicht beschweren! Wir hatten uns heute das Beschweren aus gutem Grunde verboten und geschworen es nie wieder zu tun! Wie es zu diesem Schwur kam? Damit Du das verstehst, müssen wir eine Woche zurückspringen.

Eine Woche zuvor…

Es nieselte leicht, als wir halb verschlafen aus dem Reisebus stolperten. Wir hatten 10 Stunden Nachtfahrt hinter uns und das ist bekanntlich nicht die erholsamste Art zu schlafen. Dazumal der vorhergehende Tag sehr lang war. Wir verbrachten eine Woche in der traumhaften Stadt Valparaíso und hatten jetzt wieder das Bedürfnis nach etwas Ruhe und Natur. Mehrere Leute hatten uns bereits von dem Städtchen Villarrica erzählt. Sie liegt 800 km südlich von Valparaíso am Rande eines riesigen Sees und eines schneebedeckten Vulkans.

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Foto: Kataleya von Rosenberg | Bearbeitung: https://pkfotografie.com

Die meisten Chilenen mit denen wir uns unterhielten, schwärmten von dieser Region. Außerdem sollte es hier von Campingplätzen nur so wimmeln. Nachdem wir problemlos von Valparaíso nach Santiago getrampt sind, gestaltete sich die Weiterreise von Santiago nach Villarrica sehr schwierig.

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Foto: Kataleya von Rosenberg

Nach 4 Stunden erfolglosem Warten und beginnendem Regen hatten wir die Wahl in Santiago zu übernachten oder den Nachtbus nach Villarrica zu nehmen. Da Bustickets und Übernachtungen gleich teuer waren, viel uns die Entscheidung nicht schwer. 

Gegen 5:45 Uhr kamen wir dann in Villarrica an. Selbstverständlich hatten wir noch keine Übernachtungsmöglichkeit, doch mit unserem Zelt im Rucksack und den zahlreichen Campingplätzen machten wir uns diesbezüglich keine Sorgen. Wir schnallten unsere Rucksäcke auf Rücken und Brust und begannen die Stadt in Richtung See zu erkunden. Man muss wohl nicht erwähnen, dass Sonntag früh um 6 Uhr die Bordsteine Villarricas immer noch hochgeklappt waren. Aufgrund des Regens suchten wir uns einen kleinen Unterschlupf, tranken einen Kaffee und warteten bis das Städtchen samt seinen Campingplätzen zum Leben erwachen würde. Gegen 10 Uhr wurde es dann allmählich munter. Nur die Campingplätze schienen wahre Langschläfer zu sein. Kein einziger öffnete uns seine Pforten. Ein wenig später fanden wir heraus, dass die Campingplätze Villarricas echte Winterschläfer sind und erst zum Sommerbeginn ihre Äuglein öffnen. Noch haben wir jedoch Frühling in Chile, was uns in diesem Fall etwas ungelegen kam. Ein Hostal war nicht unter 10.000 Chilenischen Pesos zu bekommen, was genau dem Doppelten unseres Budgets entsprach. Diese Option fiel also flach. Freies Campen am See ist angeblich verboten, weswegen nur noch eine Möglichkeit verblieb: Bedürftig aussehend in der Stadt herumschlendern und auf gutherzige Menschen hoffen. Das hatte schon einige Male hervorragend funktioniert, doch an diesem verregneten Sonntagmorgen in Villarrica war es aussichtslos, da fast niemand zu Fuß unterwegs war. Es half also alles nichts, die nächste Strategie hieß Klingelputze. Sie heißt so, weil man wahllos in jedes herumstehende Hostal hineinrennt und fragt, ob man gratis übernachten darf, wenn man deren Klingel (oder andere Sachen) putzt. Arbeit spontan gegen Übernachtung zu tauschen funktioniert erstaunlich gut. Der Trick ist nur, dass man sich trauen muss zu fragen. Selbstverständlich bekommt man nicht immer das beste Zimmer mit Seeblick oder Handtücher oder Bettwäsche oder ein Bett, aber man hat ein Dach über dem Kopf, Toiletten, Duschen und WLAN. Alles was der Stadtmensch braucht. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erblickten wir ein sehr schickes Hostal und versuchten unser Glück. Als wir durch den Garten zum Eingangsbereich gingen, war uns sofort klar, dass hier wohl keine Hilfe benötigt werden würde. Dieses Grundstück war so gepflegt, dass es sehr gute Chancen auf den 1. Platz bei der Deutschen Kleingartenschau gehabt hätte. Dementsprechend kam es wie es kommen musste. Die Besitzerin wollte ein 45.000 Pesos teure Übernachtung nicht gegen imaginäres Staubwischen tauschen. Doch wer suchet der findet bekanntlich. Die nette Frau zeigte auf ein gegenüberliegendes Häuschen und erklärte, dass dies auch ein Hostal sei und der Besitzer vielleicht etwas Hilfe gebrauchen könnte. Im Nachhinein frage ich mich, wie sie das wohl gemeint hatte.

Mit dem Handy am Ohr trafen wir Alberto (aus Respekt haben wir den Namen geändert) vor seinem Hostal an. Gut gekleidet, gepflegter Haarschnitt, aufrechter Gang. Bei diesem ersten Eindruck schätzen wir ihn auf Mitte 50. Wir warteten geduldig, bis er sein Telefonat beendet hatte und stellten uns vor. Kurz angebunden fragte er was wir wollen und gerade als ich mir ein Tränchen herausquetschen und unsere missliche Lage schildern wollte, unterbrach er mich und fragte auf Spanisch:

„Woher kommt ihr?“

„Alemania.“ antwortete ich.

„Na dann sprechen wir doch deutsch.“ sagte er.

Wer hätte das gedacht! Wenn das mal nicht ein guter Start war. Das würde das Erklären auf jeden Fall um einiges erleichtern. Der einzige Nachteil war, dass ich in meiner Muttersprache nicht einmal ansatzweise so hilfsbedürftig klinge wie auf Spanisch. Wie dem auch sei, verstand Alberto unsere Lage und auch wenn sein ernster Gesichtsausdruck es zu Beginn nicht vermuten ließ, bot er uns seinen Rasen als Campingplatz an. Wir waren mehr als zufrieden und wollten ihm schon fast zum Dank um den Hals fallen, als er es sich anders überlegte.
Oh nein! Oh doch! Mit nachdenklicher Mine ging er ins Kellergeschoss des Hauses und signalisierte uns, ihm zu folgen. Dann zeigte er uns ein kleines Zimmer mit zwei Betten, einem Schränkchen und einem eigenen Bad. Ihm gefiel die Lösung mit dem Zelt im Vorgarten nicht, weswegen wir hier schlafen könnten. Doch das war noch nicht alles. Wir gingen eine Etage nach oben in den eigentlichen Hostalbereich und trauten unseren Augen nicht. Dielenfußboden, holzverkleidete Wände, ein riesiges Fenster mit Blick auf den See samt Vulkan, gemütliche Sofas und ein Kamin.

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Foto: Kataleya von Rosenberg

Das war mit Abstand das beste Hostal, was wir jemals gesehen hatten und er erlaubte uns alles nach Belieben zu nutzen. Es war unglaublich! Wenn Du Dir nichts weiter erhoffst als 2 qm Gras im hintersten Stückchen des Gartens und dann ein eigenes Zimmer samt Bad, eine vollausgestattete Küche und einen Aufenthaltsraum mit Kamin und traumhaftem Ausblick bekommst, dann fragst Du Dich nur eine einzige Sache. Warum? Beim Abendessen sollten wir es herausfinden. Frisch geduscht und mit einer Ladung Wäsche in der Waschmaschiene gingen wir erstmal einkaufen. Da wir das Gefühl hatten, unsere Gartenarbeit würde die geschenkte Unterkunft nicht aufwiegen können, wollten wir unsere Dankbarkeit in Form von Essen zeigen und jeden Abend für ihn kochen. Er lebte alleine im Hostal und wäre über etwas Gesellschaft vielleicht nicht böse. Als der Abend herannahte kochten wir fleißig und bereiteten alles für ein gemütliches Essen vor. Ein liebevoll gedeckter Tisch, Kerzenschein, ruhige Musik, brennender Kamin und ein Gläschen Wein für jeden. Da er von unserem Vorhaben nichts wusste, war er sichtlich überrascht. Wir nahmen uns Zeit und aßen in Ruhe, lachten viel und redeten über sein Leben. Und da gab es viel zu erzählen!
Er sprach mehrere Sprachen fließend. Deutsch, Spanisch, Englisch, Russisch, Chinesisch. Für uns, die das Sprachenlernen lieben, natürlich ein wahrer Traum. Wir könnten unser Spanisch hervorragend mit ihm üben, er könnte sein etwas eingerostetes Deutsch auffrischen und wir könnten gemeinsam Tipps zum Sprachenlernen austauschen. Albertos Leben würde ich generell als bewegt bezeichnen. Geboren in Deutschland kurz nach dem 2.Weltkrieg als Sohn eines ehemaligen Nazioffiziers, beschloss die Familie schnell nach Chile auszuwandern. Kindheit und Jugend verbrachte er also in Chile, jedoch unter eher deutschen Verhältnissen. Danach wurde der Lebenslauf etwas undurchsichtiger. Er zog in die USA, wo er als Kampfpilot der US Airforce beitrat. In diesem Zusammenhang war er in verschiedenen Kriegen gewesen. Nach seiner Zeit als Soldat studierte er und wurde Anwalt, hatte drei Firmen und vertrat riesige Unternehmen weltweit. Das war auch der Grund für sein großes Sprachrepertoire. Er arbeitete viel in Russland und China und meinte, dass auf Übersetzer kein Verlass wäre, weswegen er die Sprachen lieber selber lernte. Er hatte mehrere Kinder mit mehreren Frauen verteilt in der ganzen Welt. Alles schien wie das typische Leben eines sehr aktiven Geschäftsmannes. Nachdem er zwei Herzinfarkte erlitt, entschied er sich alles an den Nagel zu hängen, kaufte das Haus in Villarrica nahe seiner Familie, baute es zu einem Hostal um und wollte so sein Glück und seine Ruhe finden. Jetzt verriet er uns auch den Grund seiner Gastfreundschaft. Normalerweise sei er sehr strikt und lässt niemanden einfach so in sein Haus. Doch unser Vorteil war unsere Staatsangehörigkeit. Wir sind Deutsche und das war sehr angenehm für ihn. Zum einen, weil er sein Deutsch üben konnte und zum anderen, weil er die deutsche Mentalität von Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit in Chile sehr vermisste. Kurz darauf verabschiedete er sich, um zu Bett zu gehen. Einige Minuten später kam er jedoch wieder hoch, weil es bei uns gemütlicher sei als alleine in seinem Zimmer. Zugegeben war das das erste Anzeichen für das, was noch folgen sollte. Leider wussten wir es nicht zu deuten.

Alles in allem war es aber ein sehr angenehmer Abend mit guten Unterhaltungen und leckerem Essen. Wir gingen eine Stunde später äußerst zufrieden und immer noch etwas erstaunt ins Bett und freuten uns auf die kommende, sehr gemütliche Woche mit ihren Unterhaltungen.
Manchmal ist es sehr vorteilhaft, wenn man den Ausgang der Dinge noch nicht kennt, denn das würde einem so manchen Spaß verderben. Und wir wussten noch nicht, dass dieses Abendessen das letzte seiner Art sein sollte, welches wir Drei gemeinsam einnahmen.

Der nächste Morgen war wundervoll. Kaminwärme mischte sich mit Sonnenschein. Ich schrieb fleißig und Kata bearbeitete und sortierte Fotos. Bei dieser Masse eine wahre Heldenaufgabe, die sie beeindruckend gut meistert. Zum Frühstück zauberte sie dann Crepês für alle, doch leider war von Alberto keine Spur. Erst gegen Mittag, als ihn sein Neffe besuchte, sahen wir ich zum ersten Mal. Er sah etwas müder aus als gestern und war nicht mehr ganz so gut gekleidet, was an seiner Freundlichkeit uns gegenüber jedoch nichts änderte. Während er seinen kalten Crepê aß und Kata das Geschirr abwusch, unterhielten wir uns. Mich interessierte sein Leben sehr. Im Flur des Hostels hingen Bilder von einem Boxer samt zahlreicher Medaillen und auf den Bildern und Urkunden stand sein Name. Er verriet mir, dass er neben seiner Karriere in der Airforce auch professionell geboxt habe. Kampfpilot, Profiboxer, Geschäftsmann, Staranwalt und fließend in 5 Sprachen. Mein Interesse wuchs ins Unermessliche. Doch je mehr ich nachfragte und je detaillierter ich Dinge wissen wollte, umso öfter bekam ich zu hören:

„Darüber möchte ich nicht reden.“

Ich respektierte es, da man deutlich merkte, dass ihn die Kriegserfahrungen, die Trennung von seinen Kindern und die Bürden eines Anwalts deutlich belasteten. Über was er jedoch sehr gerne redete, waren andere Leute. Er beschwerte sich über seine Putzfrau, die oft besoffen und noch öfters zu spät auf Arbeit kommt. Über den Gärtner, der immer nur Geld will, aber nicht vernünftig arbeitet. Über den Großteil fauler Chilenen, die nichts auf die Reihe bekommen und über die Unzuverlässigkeit der Menschen Südamerikas im Generellen. Deswegen mag er die deutsche Kultur. Er vermisst die Struktur und Strebsamkeit, die er während seiner Kindheit kennenlernen durfte und die ihm zu diesem erfolgreichen Leben verhalf. Dann erinnerte er mich daran, dass sein Vater ein Nazioffizier gewesen war und sagte, er selbst sei aber kein Nazi. „Nagut“, fügte er hinzu „vielleicht ein kleines bisschen.“. Das war der Moment, an dem ich mich zum erstem Mal wirklich anfing unwohl zu fühlen, weil ich zu ahnen begann, in welche Richtung der Rest der Unterhaltungen verlaufen würde. Ich versuchte mein Bestes, die folgenden Unterhaltungen in lebendigere und positivere Themengebiete zu locken, doch es half alles nichts. Immer wieder drehten wir uns im Kreis und kamen auf die faulen und unzuverlässigen Leute zurück, die ihm sein Leben bis zum heutigen Tage schwer machen. Der einzige Mensch über den er nie ein schlechtes Wort verlor, war sein Neffe. Über alle anderen jedoch beschwerte er sich ohne Unterlass.
Die nächsten Tage schienen immer dunkler und düsterer zu werden. Während Kata und ich uns um die anreisenden Gäste kümmerten, war von Alberto keine Spur. In zwei ganzen Tagen sah ich ihn genau ein einziges Mal und da bat er mich um Wein. Anhand der mehrtägigen Abwesenheit, der schmutzigen Jogginghose und der rot aufgequollenen Augen musste man kein Genie sein, um zu begreifen, was hier vor sich ging. Vielleicht wäre alles anders ausgegangen, wenn ich ihm den Wein verweigert und versucht hätte, mit ihm über seine Probleme zu reden. Stattdessen gab ich ihm das halbvolle Tetrapak und er ging zurück in seinen Keller. An diesem Punkt hatten wir einfach nur Mitleid mit ihm. Es war das typisch gescheiterte Leben eines Erfolgsmenschen. Mehrere Scheidungen, Kinder die er nie sah, das Bankkonto voll, das Haus leer. Und in den Erinnerungen die sich ständig wiederholenden Bilder des Krieges. Mit etwas Empathie ist es nicht schwer nachzuvollziehen, warum ein einst so starker und intelligenter Mensch so enden kann. Man sagt zwar, dass Zeit alle Wunden heilt, doch nicht, wenn man sie ständig wieder aufkratzt. Jetzt fühlte ich mich schuldig, weil es wahrscheinlich meine Fülle an Fragen gewesen war, die kräftig an seinen Wunden gekratzt hatte. Und zu allem Übel hatten wir ihn an unserem ersten Abend zum Wein verführt. Desweiteren könnte es sein, dass wir mit unserer Energie, unserer Lebensfreude und unseren Träumen vielleicht auch ein harter Blick zurück in eine längst vergangene Zeit waren, als auch sein Leben noch voller Freude, Spannung und Träume war. Was auch immer es war, dass diesen Prozess des täglichen Verfalls in ihm auslöste, es schien nicht aufzuhören. Vier Tage lang sahen wir ihn fast gar nicht und zum letzten Tag hin hatte er auch kein Lächeln mehr für uns übrig. Der anfänglich so steinern ernste Blick war zurückgekehrt und die einzige Nähe die er zuließ, war die seines Enkels. Am 6. Tag unseres Aufenthalts in seinem Hostal setzte er sich abends zu uns und sagte, dass wir morgen gehen müssten. Er bekomme spontan Besuch von Verwandten und brauche das Zimmer. Wir denken, dass es nur ein Vorwand war, um sich von etwas zu befreien, dass ihn anscheinend sehr belastete. Und das war auch sein gutes Recht. Am selben Abend suchten wir das Gespräch mit seinem Neffen, um herauszufinden, was sein eigentliches Problem war. Mehrmals im Verlauf der letzten Woche hatten wir Alberto unsere Hilfe angeboten, doch die Distanz schien immer größer und die Stimmung immer kälter zu werden. Wir wollten gerne die Ursache dafür wissen, um Sinn aus dem Geschehenen machen zu können. Sein Neffe erklärte uns, dass diese depressiven Phasen mit Alkohol für Alberto ganz normal wären. Sie dauern eine Woche an und danach ist wieder alles beim Alten. Das Ganze ginge schon einige Jahre so und die gesamte Familie hat sich bereits daran gewöhnt, auch wenn es des Öfteren zu Streitigkeiten kommt. Ich wollte wissen, ob es an den Kriegserfahrungen läge oder an dem stressigen Anwaltsleben, doch sein Neffe schaute mich nur verwirrt an.

„Krieg?“ fragte er. „Welcher Krieg?“

„Na als Kampfpilot bei der US Airforce!“

Er runzelte die Stirn und sagte: „Onkel Alberto war nie Kampfpilot. Mein anderer Onkel, sein Bruder, ist Kampfpilot.“

Na klasse… das erklärt dann wohl auch, warum er detaillierteren Fragen über dieses Thema stets auswich.

„Aber er war Anwalt mit Firmen in Russland und China?“ fragte ich weiter.

Sein Neffe schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Mein Onkel hat Jura studiert, aber soviel ich weiß nie als Anwalt gearbeitet.“

Wir machten anscheinend genauso erschrockene Gesichter wie ein Pärchen, dass gerade erfahren hat, dass es 18linge bekommt, weswegen er hinzufügte:

„Mein Onkel lügt viel. Er meint es nicht böse. Ich glaube, dass ist seine Art mit seiner Vergangenheit umzugehen.“

„Und die Profiboxerkarriere?“ fragte ich, während ich auf die Bilder und Medaillen zeigte.

„Das ist mein Opa, sein Vater!“

„Und das Hostal? Gehört das wenigstens ihm?“

„Nein, dass Haus gehört auch meinem Opa. Er hat es schon vor langer Zeit renoviert und zu einem Hostal umfunktioniert. Mein Onkel passt nur darauf auf und darf hier wohnen.“

Zum einen waren wir froh, dass es wenigsten tatsächlich ein Hostal war, denn sonst wäre die ganze Angelegenheit richtig gruselig geworden. Zum anderen jedoch waren wir einfach nur schockiert. ALLES WAR GELOGEN! Er war weder Profiboxer, noch Staranwalt, noch Kampfpilot, noch Geschäftsmann. Nicht einmal das Hostal gehörte ihm. All die Geschichten, die er uns in den ersten Tagen erzählt hatte, waren genau das… einfach nur Geschichten. Nichts weiter. Er hatte auch kein Kriegstrauma, kein Anwaltsstress und keine Firmen in Russland oder China. Wie viel von seinen Familiengeschichten bezüglich der Frauen und Kinder wahr war, wissen wir nicht, aber es macht auch keinen Unterschied. Das Vertrauen war verflogen und alles was blieb, war Mitgefühl für jemanden, der seit Jahrzehnten einen erfolglosen Kampf mit seinen Dämonen führte. Das ist einer dieser Momente, in dem man absolut überrascht ist von dem, was man hört und sich zum anderen denkt: „Ich habe es doch gewusst!

Es fällt mir schwer das Unwohlsein, was wir verspürten, in Worte zu fassen. Die mollige Wärme, welche diese lieb eingerichteten Räumlichkeiten und der Kamin abstrahlten, wandelten sich in bittere Kälte und wir waren uns unsicher, wie wir Alberto am nächsten Tag begegnen sollten. Gerne hätte ich ihn mit dem Ganzen konfrontiert, um Wahres von Unwahrem unterscheiden zu können, doch ich ließ es bleiben. Wahrscheinlich hatten wir in unserer Unwissenheit schon genug in seinen Wunden gepult.
Am nächsten Morgen schien er wie ausgewechselt. Die blutunterlaufenen Augen waren verschwunden, der Jogginganzug war gegen Hemd und beige Anzughose ausgetauscht und der Gang war aufrecht und selbstbewusst. Wieder einmal hatte er den Kampf mit seinen Dämonen vorübergehend gewonnen. Er war weder böse noch nett mit uns. Distant ist wohl das Wort, welches die Situation am besten beschreibt. Während Kata die verbliebene Zeit weiter zum Sortieren der Fotos nutze, ging ich auf Schlafplatzsuche in Villarrica. Unser Plan war es, eine weitere Nacht in Villarrica zu verbringen und am nächsten Tag in einen nahegelegenen Nationalpark zu gehen, um etwas zu wandern. Am kleinen Hafen Villarricas wurde ich letztendlich fündig. Der Kapitän der Fähre bot mir an, unser Zelt vor seiner kleinen Hütte aufschlagen zu können.
Als ich am späten Nachmittag ins Hostal zurückkehrte, wurde es Zeit unser Zeug zu packen und uns von Alberto zu verabschieden. Wir dankten ihm von Herzen für seine Gastfreundschaft, schließlich durften wir eine Woche kostenlos in seinem Haus verbringen. Er dankte uns für die Hilfe mit dem Hostal und den Gästen. Man merkte deutlich, dass er sehr bedrückt war und sich dennoch bemühte die Distanz zu wahren. Da ein Gespräch über die Ereignisse der letzten Woche zu diesem Zeitpunkt völlig fehl am Platz gewesen wäre, entschied ich mich, ihm die Adresse zu diesem Blog zu hinterlassen, in der Hoffnung die Worte könnten ihm etwas helfen. Wenn Du jetzt also mitliest Alberto… die Zeilen dieses und des folgenden Beitrags sind für Dich.

Wir gingen zum See und schlugen unser Zelt auf. Die Kulisse vor diesem imposanten, mit Schnee bedecktem Vulkan hatte auch nach einer Woche nichts an ihrer Wirkung verloren.

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Foto: Kataleya von Rosenberg | Bearbeitung: https://pkfotografie.com

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Foto: Kataleya von Rosenberg | Bearbeitung: https://pkfotografie.com

Während die Sonne langsam unterging und sich Stadtlichter und Sternenlichter mischten, gesellte sich der Fährenkapitän mit drei kühlen Bieren zu uns und lud uns ein, den Abend mit ihm zu verbringen. Nach drei Monaten einsamer Arbeit auf seiner Fähre, hatte auch er das Bedürfnis nach etwas Gesellschaft. Der nächste Morgen begann für uns mit einem erfrischenden Bad im eiskaltem See.

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Foto: Kataleya von Rosenberg

Danach packten wir unsere Sachen und trampten zum nahegelegenen Nationalpark Cañi. Nach einer Woche Stadtleben verspührten wir wieder das Bedürfnis nach Ruhe und Natur.

Nur 50 km von Villarrica entfernt, ist Cañi ein privat geführter Park mit einem Berg direkt in dessen Mitte und unendlichen Wäldern und Wiesen. Der Aufstieg auf diesen Berg dauert circa 6 Stunden bei gutem Wetter, wobei man knapp 1500 Höhenmeter zurücklegt. Nach den ersten 1000 Höhenmetern befindet sich eine gemütliche Berghütte, die man als Übernachtungsmöglichkeit nutzen kann. Das war unser Ziel für den ersten Tag. Einmal in der Berghütte angekommen, könnten wir einen Großteil unseres Gepäckes dort lagern und den restlichen Aufstieg zum Gipfel wagen. Dieser soll einem Plateau ähneln, auf dem sich sieben kleine Seen befinden, welche man umwandern kann. Auch hier soll es wieder eine kleine Berghütte geben, in welcher man es sich nachts gemütlich machen kann. Insgesamt planten wir drei bis vier Tage im Park zu verbringen. Dementsprechend viel Essen und Trinken schleppten wir mit auf den Berg. Wir haben wirklich hochwertige und gut auf uns angepasste Rucksäcke, welche wir immer so sinnvoll wie möglich packen, aber dennoch gehen 35 kg und 25 kg nicht spurlos an einem vorüber. Besonders dann nicht, wenn der Aufstieg so steil und schlammig ist wie in Cañi.

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Foto: Kataleya von Rosenberg | Bearbeitung: https://pkfotografie.com

Der erste Kilometer lief sich spielend. Der Weg war größtenteils eben, asphaltiert und gesäumt von kleinen alpenähnlichen Almen. Dann jedoch ging der Spaß erst richtig los. Grobes geröllartiges Gestein wechselte sich ab mit aufgeweichtem Erdboden. Die Steigungen wurden zunehmend steiler und die Gewichte der Rucksäcke drückten und rieben schwer an unseren Hüften. Wie zwei Pinguine watschelten wir behäbig bergauf, ohne das Gefühl zu haben, wirklich voran zu kommen. Das Wetter war nebelig feucht und teilweise nieselte es.

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Foto: Kataleya von Rosenberg

Rechts und links des Weges ragten riesige Bäume empor, dessen Wurzeln den Weg kreuzten und eine Art Tritthilfe boten. Nach der ersten Stunde bergauf hatten wir unsere gesamte Kleidung entweder durchgeschwitzt oder eingeschlammt. Wir redeten kein einziges Wort miteinander, weil erschöpftes Atmen es einfach nicht zuließ. Ich würde durchaus behaupten, dass mir körperliche Anstrengung nicht fremd ist. Meist genieße ich sie sogar sehr. An diesem Tag jedoch brannten meine Oberschenkel so stark, dass sich jeder Schritt in eine kleine Tortur verwandelte. Die Kleidung und die Rucksäcke begannen sich langsam zu verschieben, weswegen es an allen Ecken und Enden drückte. Egal wie straff wir unsere Hüftgurte zogen, die Schultergurte schnitten sich aufgrund der vorgebeugten Körperhaltung tief in unsere Nacken hinein und die gesamte Schulter- und Rückenregion verspannte stark. Das hat man wohl davon, wenn man unbedingt die Hälfte seines Körpergewichts auf einen Berg schleppen will.
Nach 2 Stunden hatten wir die Hälfte der Strecke zurückgelegt und entschieden uns für eine Pause. Nie werde ich das befreiende Gefühl vergessen, als ich die Gurte meines Rucksackes löste und ihn zu Boden fallen ließ. Trotz der Erschöpfung und der zitternden Beine fühlte ich mich, als würde ich schweben. Da wir noch nichts gefrühstückt hatten, machten wir am Wegesrand ein kleines Picknick, dehnten uns ein wenig und genossen den vernebelten Anblick über Wälder und Tal. Wir sind seit vier Wochen in Chile und die gegensätzlichen Erfahrungen, die wir bis dato gemacht hatten, waren beeindruckend. Von den mit Vulkanen und Alpakas bedeckten Hochgebirgen Parinacotas, über die leblose Atacamawüste und die bunte Stadt Valparaíso hin zu dieser dicht bewachsenen Bergregion, welche den österreichischen Alpen zum Verwechseln ähnlichsieht. In Chile ist wirklich für jeden Geschmack etwas dabei.

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Foto: Kataleya von Rosenberg | Bearbeitung: https://pkfotografie.com

So schwer es uns auch viel, wir mussten unsere Frühstückspause beenden, die schweren Rucksäcke aufschnallen und uns die restlichen zwei Stunden den Berg hinaufquälen. Auch wenn uns unsere Mägen und unser Blutzuckerspiegel für diese Pause dankten, so war unsere Muskulatur ganz und gar nicht zufrieden damit. Unsere Waden, Oberschenkel und Schultern waren komplett ausgekühlt und freuten sich nicht einmal ansatzweise über die erneute Belastung. Bei jedem Schritt schmerzten und verkrampften sie und nach einer halben Stunde des Bergaufwatschelns und Bergabrutschens wollte ich diesen scheiß Rucksack einfach nur in die Ecke schmeißen und wieder runtergehen, denn je höher wir kamen, umso mehr nahm der Regen zu und umso rutschiger und schwerer wurde jeder Schritt. Innerlich kochte und brodelte ich vor Wut. Der kack Rucksack war einfach nur belastend, der Drang mich zu beschweren wuchs ins Unermessliche und der Gedanke an weitere zwei Stunden bergauf laufen wurde unerträglich.

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Foto: Kataleya von Rosenberg

Oft sind es die schwersten Situationen, die einem die wichtigsten Lektionen erteilen und in diesem Fall konnte man es sogar ganz wörtlich nehmen. Ich beobachtete Kata und mich, wie wir krampfhaft versuchten mit dem belastenden Gewicht auf unseren Schultern unseren Berg zu erklimmen, während der Drang des «Sich-Beschweren-Wollens» ins Unermessliche stieg und der Gedanke an den vor uns liegenden Weg immer unerträglicher wurde.

Die Geschichte der „Geschundenen Seelen“

Ob es an der Anstrengung, am Ort oder einfach an meiner blühenden Fantasie lag, kann ich nicht sagen, aber neben uns tauchten plötzlich Hunderte andere Leute auf, die ebenfalls diesen Berg erklimmen wollten. Es waren geschundene und müde Gesichter von Männern und Frauen jeden Alters. Mütter und Väter liefen schwerfällig mit ihren Kindern in der Mitte, Jugendliche gingen in Gruppen oder alleine vorneweg und Großmütter und Großväter schleppten sich am Ende dieser Völkerwanderung hinterher. Ich beobachtete die Massen, wie sie an mir vorbeizogen. Stöhnend, schniefend und schnaufend. Es war die Wanderung der „Geschundenen Seelen“. Hunderte Menschen stampften in ihren schweren Wanderschuhen bergauf. Und je mehr sie stampften, umso rutschiger und schlammiger wurde der Boden für jene, die nach ihnen kamen. Festen Schrittes rammten sie ihre Sohlen in den Boden, in der Hoffnung etwas mehr Halt auf ihrem Weg zum Ziel zu haben, ohne zu bemerken, dass das den Weg für alle hinter ihnen Gebliebenen fast unbegehbar machen würde. Die Leute rutschten und fielen einer nach dem anderen. Kinder, Mütter, Großväter. Massen verloren den Halt, stürzten und rutschten bergab. Einige hielten an, um ihnen wieder aufzuhelfen, doch der Großteil ging einfach weiter. Ich denke, sie hatten genug mit sich selbst zu tun. Während die Massen vorbeizogen, fielen mir die Rucksäcke auf, die jeder mit ich schleppte. Alle waren bis zum Platzen gepackt. Riesige schwarze Ungetüme. Einige waren größer als andere, einige kleiner, doch alle hatten eines gemeinsam. Längs von oben nach unten stand auf ihnen das Wort Vergangenheit geschrieben. Vergangenheit? Was sollte das bedeuten? Der Anblick dieser erschöpften Herde tränkte unsere Herzen in Trauer, doch noch schlimmer war das dunkle Raunen, welches jetzt den Wald erfüllte. Es war das Raunen der Massen, die sich über ihren Aufstieg beschwerten. Einige beschwerten sich lauter, andere leiser. Manche schrien sogar von Zeit zu Zeit, während andere nur ihre Lippen bewegten, ohne einen Ton von sich zu geben. Anscheinend leidet jeder auf seine eigene Art. Die Worte, die ihre Münder verließen, waren Worte der Sorge, Worte der Angst und Worte des Leidens. Doch allesamt waren es Worte des «Sich-Beschwerens». Jeder beschwerte sich über irgendetwas oder irgendjemanden. Von Zeit zu Zeit geschah es, dass Leute auf die Knie fielen, tränenüberströmt bergauf schauten und schrien:

„Ich kann nicht mehr! Ich kann es nicht mehr ertragen!“ 

Ihre Augen waren blutunterlaufen und angsterfüllt, ihre Knie zitterten und ihre Finger gruben sich tief in den Schlamm. Wieder hielten nur vereinzelt Leute an, um ihnen Mut zuzusprechen und ihnen aufzuhelfen. Meist waren es jene, deren Rucksäcke nicht ganz so groß und schwer erschienen. Der Rest lief einfach weiter. Ich schätze, diese armen Seelen hatten abermals genug mit sich selbst zu tun. Dann packte es mich plötzlich. Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf, die beantwortet werden wollten.

„Wo kommen all diese Leute her? Was machen sie auf diesem Berg? Was ist ihr Ziel? Warum die riesigen Rucksäcke? Was befindet sich in den Rucksäcken? Und warum steht auf jedem das Wort Vergangenheit geschrieben?“

Langsam bewegten wir uns in die Masse. Einen nach den anderen fragten wir, wo er herkam.

„Von da unten!“ sagten sie selbstverständlich.

„Ja, ja, ich weiß. Aber von wo genau? Wo wohnst Du? Wo ist Dein Zuhause?“

„Ich weiß es nicht.“ lautete die Antwort von jedem einzelnen.

Wir fragten, warum sie hier sein, doch wieder war die Antwort dieselbe:

„Ich weiß es nicht.“

„Wie kann man das nicht wissen?!?“, fragte ich.

Einige sagten, sie seien hier, weil alle hier sind. Andere wiederum sind hier, weil ihnen gesagt wurde, sie sollen hierher gehen. Kein einziger jedoch war hier, weil er hier sein wollte!

„Aber wo geht ihr denn hin?“ fragten wir bestürzt.
„Was ist euer Grund, euer Ziel?“

Ich blickte in die müden Augen des Familienvaters vor mir und kannte die Antwort, bevor er sie aussprach:

„Ich weiß es nicht.“

„Du weißt nicht, woher Du kommst! Du weißt nicht, warum Du hier bist! Und Du weißt nicht, wohin Du gehst! Woher willst Du denn dann wissen, ob Du richtig bist?“

Eine Träne rollte langsam seine Wange hinab, während ich ihm zornig in die Augen blickte. Er antwortete nicht. Mit seiner kleinen Tochter auf dem Arm und seinem schwarzen Rucksack auf den Schultern, drehte er sich langsam weg und stampfte weiter mühselig bergauf. Er wusste, dass er hier nicht richtig war. Seine Seele weinte und schrie innerlich, doch er kämpfte tapfer dagegen an. Schließlich waren alle anderen auch hier und er tat es ihnen einfach gleich. Ich schätze, er fürchtete, dass Anderssein gleichzeitig Alleinsein bedeuten würde und dafür war er nicht bereit. Seine Angst vor den Leiden des Alleinseins war größer, als das Leiden seines Sinn-losen Aufstiegs.
Doch was hat es mit den Rucksäcken auf sich? Mit was waren sie gefüllt? Und warum stand auf jedem einzelnen das Wort Vergangenheit geschrieben?
Ein alter Mann passierte uns und aus seinem Rucksack schaute etwas heraus, was einem Anker ähnelte.

„Entschuldigen Sie, aber warum schleppen Sie einen Anker den Berg hinauf?“

Verdutzt schaute er mich an. Natürlich, dachte ich. Er weiß es nicht! Dann kamen uns eine Frau entgegen, die einen Feuerlöscher auf ihren Rucksack geschnallt hatte, ein junger Mann mit einem Bügeleisen in der Seitentasche sowie eine ältere Frau mit einem Autoreifen in ihrer Tasche.

„Was wollt ihr mit dem Zeug?“ fragten wir. „Ein Feuerlöscher?! Wozu brauchst Du einen Feuerlöscher? Ihr geht auf einen Berg. Dort gibt es weder Autos noch Strom für ein Bügeleisen.“

Sie schauten uns an, als ob wir verrückt wären und sie nicht im Geringsten wüssten, wovon wir redeten.

„Weiß hier überhaupt irgendjemand irgendetwas?!?“, schrie ich.

Ich schaute mir ihre Rucksäcke an und bemerkte, dass sie noch viel größer waren als unsere.

„Was habt ihr denn noch in euren Rucksäcken?“ fragten wir.
Wenigstens das mussten sie doch wissen. Schließlich haben sie ihn gepackt und wollen die Dinge auf dem Weg oder bei Ihrer Ankunft auf dem Gipfel für irgendetwas nutzen. Doch diese Narren schauten uns an, als wären wir die größten Idioten der Welt. Da standen wir nun, Idioten und Narren und versuchten uns vernünftig zu unterhalten.

„Los… sagt schon…was schleppt ihr mit euch herum?“

Doch wie im Chor tönte es:

„ICH WEIß ES NICHT.“

„Wie könnt ihr das nicht wissen?!? Habt ihr sie nicht gepackt? Habt ihr sie nicht wenigstens einmal auf eurem Weg benutzt? Habt ihr nicht vor, Gebrauch von den Dingen in ihnen zu machen, wenn ihr am Gipfel angekommen seid?“

Stumpf und eintönig schüttelten sie ihre Köpfe und sagen:

„ICH WEIß ES NICHT.“

„Ihr wisst nicht, mit was eure Rucksäcke gefüllt sind! Ihr habt bis jetzt nichts aus ihnen genutzt! Und ihr habt auch nicht vor, etwas daraus zu nutzen! Richtig?“

Sie nickten zustimmend.

„Warum zum Teufel schleppt ihr die Dinger dann mit auf den Gipfel, ihr Narren?!? Wenn sie euch keinen Nutzen bringen, dann besteht ihre einzige Wirkung darin, euch den Aufstieg zur Folter zu machen! Warum foltert ihr euch selbst? Setzt die Rucksäcke ab! Schmeißt sie in die Ecke und ihr werdet euch fühlen, als würdet ihr den Berg hinaufschweben.“

Dabei erinnerte ich mich an das herrliche Gefühl der Leichtigkeit, als ich nach zwei Stunden Wanderung meinen eigenen Rucksack abgesetzt hatte. Trotz Erschöpfung schien ich zu schweben. Doch diese Narren verstanden es nicht. Wir blickten in diese drei leeren Augenpaare, die emotionslos durch uns hindurch zu starren schienen. Dann drehten sie sich weg und stampften gleichen Schrittes wie programmierte Roboter zu einem Ziel, dass sie nicht kannten, mit einem Ballast, den sie nicht brauchten! Narren!

Doch gerade als wir dachten, es könnte nicht abstruser werden, sahen wir einen Mann mit einem monströsen Rucksack und hunderten anderen Sachen in seinen Armen, der unaufhörlich die Massen anschrie und dem ein oder anderen gelegentlich etwas in den Rucksack steckte. Was zum Teufel tat er da? Wir sollten es bald herausfinden.

Wir kamen uns vor, als wären wir mitten in den Tagesausflug des ortsansässigen Irrenhauses geraten. Doch als wir uns von der Masse entfernen wollten, erblickten wir in der Menge einige bekannte Gesichter. Es waren die Gesichter von Freunden, Kollegen, Verwandten und sogar einiger Familienmitglieder. Alle schnieften und schleppten und beschwerten sich. Wir rannten zu ihnen und umarmten sie, doch sie schienen uns nicht zu erkennen. Ihre Blicke waren genau so leer und blutunterlaufen wie die der restlichen Masse. Kein Funkeln, keine Sternenschnuppe weit und breit.

„Wo kommt ihr her? Was macht ihr hier? Wo geht ihr hin? Was tragt ihr in euren Rucksäcken?“

„ICH WEIß ES NICHT.“ Sprach der Chor der Narren.

Wir wollten ihnen helfen und ihre Rucksäcke für eine Weile tragen. Geteiltes Leid ist halbes Leid und dafür sind Familie und Freunde doch schließlich da, richtig? Doch sie stießen uns weg. Keiner wollte uns seinen Rucksack geben. Ich sah Freunde und ehemalige Arbeitskollegen an mir vorbeiziehen, doch keiner wollte sich helfen lassen und keiner wollte uns zuhören. Alleine der Vorschlag den Rucksack abzulegen oder darüber nachzudenken, warum sie diesen Berg erklimmen wollten, holten die schlimmsten Eigenschaften aus den meisten hervor. Viele wurden wütend und fingen an uns zu beschimpfen, andere brachen in Tränen aus und gaben uns die Schuld dafür und alle gemeinsam beschwerten sich umso mehr über alles in ihrem Leben, während sie tausenden Dingen die Schuld für ihr Leiden gaben und ihren Höllenmarsch stupide fortsetzten. Doch so einfach wollten wir nicht aufgeben. Ich dreht mich herum und war gerade im Begriff den Rest der Masse aufzuhalten, als es plötzlich passierte. Da stand er vor mir mit dem selben müden und leeren Blick, mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern. Mein Herz begann zu rasen, meine Knie begannen zu zittern und meine Hände ballten sich zu Fäusten.

„Das kann nicht sein!“ schrie ich. „Das ist unmöglich!“ Doch es war möglich, denn ich spürte seinen warmen Atem an meinem Hals, als er seinen Kopf leicht hob und mir leblos in die Augen blickte. Er stand tatsächlich vor mir! Besser gesagt: ICH stand vor mir! Das Gesicht etwas älter, mit etwas mehr Falten, aber zweifellos das Meinige. Die Haare einst kräftig braun, waren dünn und brüchig. Der Körper einst stark und gesund, schien fragil und krank. Doch das Schlimmste waren dennoch die Augen. Wo war das Funkeln? Wo waren die Sternenschnuppen seiner bzw. meiner Augen? Ich schaute an ihm herab und konnte nicht glauben, was ich sah.

„Was zur Hölle trägst Du für Kleidung?“

Schwarze Armeestiefel, eine schlammig orangene Rettungsdiensthose, ein blaues durchgeschwitztes Krankenhausoberteil. Reliquien einer längst vergangenen Zeit. All die Dinge, die ich eigentlich hinter mir gelassen hatte, doch er anscheinend noch nicht.

„Was machst Du hier? Wo gehst Du hin? Was ist in Deinem Rucksack?“

„Ich weiß es nicht.“

„Bist du behindert!?“ schrie ich. „Wie kannst Du nicht wissen, was da drin ist? DU hast ihn doch gepackt und DU trägst ihn! Also was ist in diesem beschissenen Rucksack?“

„Ich weiß es nicht.“ lautete die immer gleiche Antwort.

Jetzt reichte es. Ich wurde wütender, als ich es jemals in meinem ganzen Leben gewesen bin und schrie aus vollem Halse:

„WAS IST IN DEINEM RUCKSACK?“

„Ich weiß es nicht.“ sagte der König der Narren.

Das war´s! Mit geballten Fäusten und einem lauten Schrei stürzte ich mich auf ihn und warf ihn zu Boden. Ich riss ihm seinen Rucksack vom Rücken, schüttete ihn aus und konnte nicht glauben, was ich sah.

MÜLL!

Alles, was er mit sich trug, war völlig nutzloser Müll. Ein zerrissenes Fischernetz, ein kaputter Fußball, ein Klodeckel und alte Boxhandschuhe. Oh man… dieser Trottel hatte sogar eine verrostete Hantelscheibe und einen Blecheimer voller Kieselsteine mitgenommen.

„Was zum Teufel willst Du mit diesem Scheiß auf einem Berg?“

Ich wollte gerade beginnen, den Eimer mit den Steinen auszuschütten, als er mich wegstieß und alles wieder in seinen Rucksack packte.

„Warum packst Du das Zeug wieder ein? Du brauchst es doch nicht einmal! Es nützt Dir nichts!“

Da schaute er auf und blickte mich mit feuchten Augen an.

„Aber das ist doch alles was ich habe!“

Ich war sprachlos. Was soll man dazu sagen? Er fuhr fort, alles wieder hektisch in seinen Rucksack zu packen.

„Ich muss weiter“, sagte er nervös und wie am laufenden Band.
„Ich muss weiter. Ich muss weiter. Ich muss weiter…“

„Weiter?!?“ schrie ich. „Wohin denn weiter?“

„Ich weiß es nicht“, sagte er. „Ich muss weiter.“

Sprachlos und mit Tränen in den Augen schaute ich ihm zu, wie er diesen ganzen nutzlosen Schund in seinen Rucksack stopfte, ihn auf seine Schultern hiefte und schweren Schrittes seinen Aufstieg fortsetzte. Lange beobachtete ich ihn, wie er sich einen Weg bahnte, der niemals für ihn bestimmt war. Das Letzte, was ich von ihm hörte, waren seine Klagesschreie über den unerträglichen Aufstieg und seine Beschwerdensschreie über Gott und die Welt. Das Letzte was ich von ihm sah, war das fettgedruckte Vergangenheit auf seinem Rucksack, als er langsam zwischen den Bäumen verschwand. Ein grausamer Schauder lief mir über den Rücken, als mir klar wurde, dass ich selbst dieser Mensch war.

„Jonathan! … JONATHAN!!         … JONATHAN!!!

Ich wachte auf. Die Massen waren verschwunden. Nur Kata stand vor mir und rief meinen Namen.

„Hör mal! Die Vögel! Klingt das nicht schön?“

Die Wolken und der Regen waren verschwunden, die Sonne stand am Himmel und die Vögel sangen Frühlingslieder.

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Foto: Kataleya von Rosenberg | Bearbeitung: https://pkfotografie.com

Es war also nur ein Traum. Ein Alptraum. Wir befanden uns eine Stunde vor unserem Ziel. Wie ich die letzten zwei Kilometer zurückgelegt hatte, wusste ich nicht, doch hier standen wir nun über den Wolken und schauten ins Tal hinab.

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Foto: Kataleya von Rosenberg | Bearbeitung: https://pkfotografie.com

Ich genoss die Wärme auf meiner Haut, aber konnte meine Gedanken nicht von den Erlebnissen der letzten halben Stunde lassen. Was wollte mir das Gehen und das Leben sagen? All diese müden Leute, einige unserer Freunde und unsere Familie und ganz zum Schluss ich selbst, beladen mit nutzlosen Müll der Vergangenheit, während wir uns lauthals beschwerten und am Blick bergauf zerbrachen. Die leeren, trüben Augen, das ständige Stolpern und Fallen, die Tränen der Verzweiflung und Trauer, die Ignoranz der Umhergehenden, welche genug mit ihrer eigenen Last zu kämpfen hatten und das monotone „Ich weiß es nicht.“, dass aus ihren Mündern hallte. Es war ein Blick in die Vergangenheit. Oder nicht? Hatte ich mich nicht selbst die letzten Stunden des Aufstiegs innerlich endlos beschwert? Fühlte ich nicht genau in diesem Moment, während sich die Rucksackgurte in meine Haut schnitten, den Drang des «Sich-Beschweren-Wollens». Hatten wir nicht gerade erst Alberto kennengelernt, der sich über alles und jeden in seinem Leben beschwerte, während er versuchte seine Lasten der Vergangenheit in einem Meer aus Alkohol zu ertränken? Gab es nicht just in diesem Moment unzählige unserer ehemaligen Kollegen und Freunde, die sich gerade einen Berg hochquälen, ohne zu wissen warum? Und gibt es nicht weltweit Millionen und Abermillionen Leute, die stumpf dem Tun der Massen folgen, sich mit unnützem Ballast beladen, die weder wissen woher sie kommen, noch wohin sie gehen? Leute, die ihr Leben nicht aus ihrem Inneren leben, aus einer brennenden Leidenschaft für die Dinge, die sie lieben, sondern von außen heraus mit der Einstellung, dass die Dinge nun mal so sind, dass es alle so machen, dass es schon immer so war, dass es nicht anders sein kann und am schlimmsten von allen, dass sie keine andere Wahl haben.

Mein Tagtraum war kein bloßer Blick in die Vergangenheit. Er war ebenfalls ein Blick in die Zukunft und in die Gegenwart. Es war ein Blick 4000 Jahre zurück in der Zeit und wahrscheinlich 4000 Jahre vor. Das «Sich-Belasten» und das «Sich-Beschweren» ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst, schließlich tun wir es doch alle, oder? Dabei realisieren wir nie, was wir uns eigentlich antun. Hast Du schon jemals darüber nachgedacht, was es bedeutet, sich zu beschweren? Selbst unsere Sprache möchte uns hier helfen und uns eine Lösung zeigen. Denn jedes Mal, wenn Du Dich beschwerst, machst Du genau das…

Du be-SCHWERST Dich!

Nicht die Welt, nicht das Leben, nicht Dein Partner, nicht Deine Kinder, nicht Deine Ex-Frau, nicht Deine Kredite, nicht Deine Kollegen, nicht Deine Arbeit, nicht Deine Kunden, nicht Dein Chef, nicht der Staat, keiner, außer Du selbst!

DU beschwerst DICH!

DU machst es DIR schwer!

Doch hier beginnt der Irrsinn erst richtig, denn als ob das «Sich-Beschweren» nicht schon dämlich und nutzlos genug wäre, entscheiden wir uns alle jeden Tag aufs Neue dazu, uns zu belasten. Jeden Morgen schnallen wir uns unseren Rucksack der Vergangenheit auf die Schultern, welcher gefüllt ist mit nutzlosen Reliquien längst vergangener Zeiten und gehen gebückt durchs Leben. In unserer ganzen Ignoranz und während wir uns wie kleine Kinder beschweren, sind wir unfähig, den wichtigsten Fakt zu erkennen:

WIR packen unseren Rucksack! Niemand anderes!

Vor langer Zeit entschieden wir uns, unseren Rucksack mit bestimmten Erinnerungen zu füllen, doch aus irgendeinem merkwürdigen Grund wählten wir meist die schwersten Erinnerungen. Jene, die uns am meisten belasteten. Und während die Jahre vergingen, vergaßen wir, mit was wir einst unseren Rucksack füllten. Dieses Vergessen weitete sich aus, bis wir nach Jahrzehnten der Schlepperei die Existenz des Rucksacks komplett vergessen hatten. Er war jetzt zu einem Teil von uns geworden, untrennbar von Körper und Geist. Deshalb reagierten all die Leute, inklusive mir selbst, so aggressiv, als wir ihnen den Rucksack abnehmen wollten. Er war ein Teil von ihnen! Er war sie selbst. Er beinhaltete alles, was ihr Leben ausmachte. All die (ge)wichtigen Erinnerungen, welche ihr Leben real erscheinen ließen. Trage ein Gewicht lange genug und mit der Zeit wird es ein Teil von Dir. Du gewöhnst Dich an seine Last und obwohl es Dich belastet und Dir das Gehen erschwert, wirst Du es verteidigen, weil Du glaubst es sei ein Teil von Dir, den Du (er)tragen musst. Du wirst blind für den Fakt, dass DU der- oder diejenige bist, die entscheidet, was sich im Rucksack befindet.

Jetzt wurde uns auch klar, was es mit diesem merkwürdigen Mann auf sich hatte, der die anderen beschimpfte und ihnen sein Zeug in den Rucksack steckte. Er war niemand geringeres als der NACHTRAGENDE. Das sind wahrlich die schlimmsten Gestalten unter den Leuten. Selbst wenn man es schafft, sich eines Teiles seines Ballastes zu entledigen, kommen jene undankbaren Kreaturen und tragen einem das Weggeschmissene nach. Leider Gottes realisieren diese Zurückgebliebenen nicht, dass das Nachtragen nicht nur ihre Mitmenschen nutzlos belastet, sondern in erster Linie sie selbst. Denn zu ihrem eigenen Ballast kommt nun auch noch der Ballast, den sie den anderen nachtragen hinzu. Und so müssen diese hirnamputierten Esel zwangsläufig als Erste samt ihrem Ballast zu Grunde gehen.
Die wirklich schlechte Nachricht dabei ist, dass wir höchstwahrscheinlich alle Nachtragende sind. Der eine trägt nur etwas mehr als der andere, aber es gibt wohl kaum einen unter uns, der nicht irgendeinen Groll gegen irgendetwas oder irgendjemanden hegt und ihn fleißig mit sich schleppt. Das macht uns alle zu diesen undankbaren, zurückgebliebenen, hirnamputierten Eseln, welche nicht in der Lage sind, die einfachsten Dinge des Lebens zu verstehen.

Wer anderen etwas nachträgt, der trägt es selbst!

Wenn sich Dein Leben also zuweilen belastet, beschwert und unerträglich anfühlt, dann frage Dich, ob es nicht daran liegen könnte, dass Du anderen Menschen gerne etwas nachträgst.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist folgender. Wir alle müssen den Rucksack der Vergangenheit, den Rucksack der Erinnerungen tragen. Darum kommt man nicht herum. Zwischen diesen geschundenen Seelen gab es nur eine einzige Gruppe, die keinen Rucksack trug. Es waren die Jüngsten, jene, welche noch von ihren Müttern und Vätern getragen werden mussten, da sie zu klein zum Gehen waren. Alle anderen jedoch, egal welchen Alters, hatten ihren eigenen Rucksack. Einmal schauten wir in den Rucksack eines 4-jährigen Mädchens. Es war ein kleiner rosaner Rucksack mit Bildern von Elfen und Einhörnern. Er war federleicht. Wir machten ihn auf und alles was uns entgegenkam, waren Luftballons, Seifenblasen und Schmetterlinge. Dieses Mädchen war auch die Einzige, die uns freiwillig in ihren Rucksack schauen ließ. Sie wusste noch, dass sie ihn trug und schämte sich seines Inhaltes nicht. Ganz im Gegenteil. Ihre Erinnerungen auszupacken und mit uns zu teilen, bereitete ihr riesige Freude. Niemals werde ich ihr Kichern unter dem Stöhnen der «Sich-Beschwerenden-Masse » vergessen.
Ich denke, dass ist der zweite Grund, warum uns keiner der Erwachsenen in seinen Rucksack hat schauen lassen und warum sie selbst es nicht wagten hineinzuschauen. Sie schämten sich ihrer Vergangenheit und ihrer Erinnerungen. Auspacken und Hineinschauen würde zu sehr schmerzen.
Du solltest Dir also im Klaren sein, dass Du es bist, der seinen Rucksack packt. Jeden Tag aufs Neue! Und ob sich Anker oder Luftballon, Feuerlöscher oder Seifenblasen, Bügeleisen oder Schmetterlinge in ihm befinden, entscheidest DU. Nur Du alleine!

Jetzt düngte mir auch meine eigene Dummheit. Welch ein Narr ich doch war. Wie sehr ich mich in den letzten drei Stunden über diesen Aufstieg und die Strapazen beschwerte. Und wie nutzlos es doch war, denn war nicht ich es, der diesen Rucksack packte? Und war nicht ich es, der sich zum Aufstieg entschied? Oh wie töricht Du doch bist, Du Menschenkind. Nun ward mir die ganze Absurdität der Lage klar.


Der Mensch be-lastet sich mit seiner Vergangenheit, be-schwert sich über seine Gegenwart und wundert sich dann allen Ernstes, dass er den Blick in seine Zukunft nicht er-tragen kann.


Ich möchte, dass Du diesen Satz noch einmal liest, damit Du Dir der Absurdität vollkommen bewusst wirst.

DU be-lastest DICH mit DEINER Vergangenheit. Du be-schwerst DICH über DEINE Gegenwart. Und dann wunderst Du Dich ernsthaft, dass DU DEINE Zukunft nicht er-tragen kannst.

Liest Du hier irgendwo die Worte: Ehefrau, Ehemann, Ex-Freund, Ex-Freundin, Kind, Familie, Arbeit, Chef, Kollegen, Kunden, Geld, Politik, Staat, Kapitalismus, Handy, Menschen, Pharmaindustrie, McDonalds, Zeit oder Leben? Nein! Denn keiner von ihnen hat DEINEN Rucksack gepackt oder DICH gezwungen DEINEN Berg zu besteigen. Und keiner von ihnen zwingt Dich weiter zu gehen.


Dein Wille wars in Ignoranz
Zu tanzen diesen Höllentanz
Zu tragen diese schweren Lasten
Zu hassen die, die Dich einst hassten.

Du bists wohl, der Belastete
Der stets durchs Leben Hastende
Der seinen Rucksack füllt mit Dingen
Die ihn erschöpft zu Boden ringen.

Du bists wohl, der Beschwerende
Der Schwarz und Grau Verzehrende
Der sich durchs Hier und Heute quält
Und nicht begreift, dass er´s selbst wählt.

Du bists, der Nicht-Ertragende
Der ängstlich stets Verzagende
Der mit sich trägt, was er bereut
Und deshalb seine Zukunft scheut.

Du bists wohl, der Nachtragende
Der Anderer Glück Versagender
Der sich der eigenen Last entleert
Indem er andere Seel´n beschwert.

Du bists wohl, der sein Schicksal hütet
Der Unrecht stets mit Wut vergütet
Der leidend einen Berg besteigt
Obwohl sein Herz nach Meeren schreit.

Dein Wille wars in Ignoranz
Zu tanzen diesen Höllentanz
Zu nehmen diese schweren Hürden
Zu leben mit des Esels Bürden.
Jonathan von Rosenberg


Die letzte Stunde bergauf war ein Klacks. Nicht etwa, weil die Strecke einfacher oder mein Rucksack leichter wurde. Nein! Ich hatte einfach aufgehört mich zu be-schweren. Und plötzlich konnte ich den Aufstieg auch er-tragen. Oh welch Wunder! Nachdem mein innerer Dialog der dämlichen Beschwererei endlich stoppte, hörte ich wieder das Zwitschern der Vögel, das Brausen des Windes und das Rauschen des Waldes. Ich spürte auch meinen schweren Atem und meine müden Muskeln und genoss das Gefühl, denn so fühlte ich mich lebendig. Ich lebe, dachte ich mir. Ich lebe und DARF meinen Berg besteigen.

Als wir in der Berghütte ankamen, hatten sich alle Wolken verzogen und die Sonne strahlte. Mein gesamter Körper flehte mich an, diesen schweren Rucksack endlich abzusetzen und den wunden Stellen etwas Luft zu gönnen, doch ich wartete noch. Ich schloss meine Augen und stellte mir vor, wie auch auf meinem Rucksack das Wort Vergangenheit geschrieben stand. Ich stellte mir vor, wie dieser Rucksack mit all meinen belastendsten Erinnerungen gefüllt war, welche ich seit Jahren oder Jahrzehnten mit mir herumschleppte, obwohl sie mir nichts nutzen. Ich stellte mir vor, dass sich in dem kleinen Rucksack auf meiner Brust all der Krempel befand, den ich anderen Menschen nachtragen wollte. Ich spürte die erdrückende Last dieser beiden Rucksäcke und wie sie mich zu Boden ringten. Dann öffnete ich langsam die Schnallen, löste die Schultergurte und langsam aber sicher glitten die Rucksäcke von meinen Schultern und fielen zu Boden. Meine Vergangenheit fiel von mir ab und mir schien, als würde ich schweben. Ohne die Lasten der Vergangenheit und das Beschweren über die Gegenwart schien jede Zukunft plötzlich erträglich. Jetzt begriff ich, was das Wort Unbeschwertsein wirklich bedeutete und lernte so den Unbeschwerten Schritt. Ich genoss das Gefühl und diesen Gedanken, bis mich das Wiehern eines wilden Pferdes in diese Welt zurückholte. Ich weiß nicht, was dieser Hengst hier oben machte, aber ohne Sattel und ohne Reiter schien auch er die Leichtigkeit des Unbeschwerten Schrittes zu kennen, was uns schnell zu Freunden machte.

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Foto: Kataleya von Rosenberg

Solltest Du, mein lieber Leser, Dich beim Lesen der Geschichte der „Geschundenen Seelen“ selbst getroffen haben, so wie auch ich mich traf, dann möchte ich Dir folgende Fragen stellen:

Woher kommst Du?

Wohin gehst Du?

Warum bist Du hier?

Was hast DU in DEINEN Rucksack der Vergangenheit gepackt?

Wie nützlich ist er Dir auf Deiner Reise?

Bist Du ein Nachtragender?

Und am wichtigsten von Allem…

Warum be-schwerst DU DICH?

Auch wenn Dir das Beantworten dieser Fragen schwer fallen wird, so muss Dein Leben dadurch umso leichter werden, denn das ist eines der wundervollen Paradoxe des Lebens.
Es sind die schweren Dinge, die uns leichter machen. Probier es aus. Sei mutig und ehrlich und lerne die Kraft des Unbeschwerten Schrittes kennen.


Wie der restliche Aufstieg zur Bergspitze ausgeht, erfährst Du im nächsten Schritt. Melde Dich also schnell für den Newsletter an, um ihn nicht zu verpassen, denn zweifellos bleibt es spannend und voller Herausforderungen. Bis dahin… Kata und Jonathan

 

5 Replies to “Der Unbeschwerte Schritt”

  1. Wieder einmal bin ich beeindruckt von euren Erlebnissen. Auch mich haben deine Erkenntnisse nachdenklich gemacht! Wievel man doch im Leben falsch macht!
    Weiterhin alles Gute. Ganz liebe Grüße Karin

  2. Jeder Mensch setzt sich ja so seine Ziele im Leben. Da das Leben aber kein Ponyhof ist, sind die meisten Wege zur Erfüllung seiner Träume auch steinig. Siehe bei Euch, um all die positiven Eindruecke zu erlangen, muesst Ihr eben auch mal einen beschwerlichen Berg erklimmen oder bei Minusgraden im Zelt schlafen. Solange es für einen persönlich die Strapazen wert sind um sein Ziel zu erreichen und man am Ende des Weges glücklich ist, muss man auch manchmal stolpern und wieder aufstehen. Ganz, ganz liebe Grüße und lasst es Euch gut gehen

  3. Oli hat Recht, nur wir selbst packen unseren Rucksack und nur wir schleppen ihn mit uns rum. Nichts ändert sich außer Du änderst Dich, den Rat bekam ich von einer älteren Kollegin als ich mich mal bitterlich be-schwerte. Auch uns hat der Beitrag sehr berührt und sehr nachdenklich gestimmt. Ich werde ihn noch ein paar mal lesen, vor allem “ Der Satz“ und „die Fragen“ haben mitten ins Schwarze getroffen. Wir hoffen bei euch hat es aufgehört zu regnen und Euer Rucksack ist etwas leichter und besser zu tragen? Wir denken ganz viel an Euch und wünschen Euch für das letzte Drittel Eurer Reise viele unbeschwerte Schritte. Übrigens ganz liebe Grüße von Euren Nachbarn, wir haben sie gestern zum Kaffee besucht und deinen Lieblingsquarkkuchen gegessen. Fühlt Euch umarmt und gedrückt bis bald

  4. Mein lieber Oli,

    tatsächlich habe ich auch ab und zu an Dich gedacht, als ich diesen Text schrieb. Nicht etwa, weil Du einen Berg besteigst, der nicht für Dich bestimmt ist oder weil Du Dich ständig über Dinge be-schwerst, die Du ändern könntest, sondern einfach nur deshalb, weil ich wusste, dass Du speziell im letzten Jahr viel zu viel Krempel in Deinen Rucksack gepackt hast, der Dir nichts nützt und Dich nur sinn-los be-lastet. Schmeiß den Krempel weg. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass Du vergisst, sondern das Du Platz für Neues schaffst. Eine Seifenblase hier, ein Schmetterling da und der verschmuste Arthur will ja auch noch mitgenommen werden. 😉

    Fühl Dich von uns gedrückt… bis bald. 🙂

  5. „WIR packen unseren Rucksack! Niemand anderes!“

    Der Abschnitt hat mich tief berührt und zum Nachdenken bewegt. Mir war es so, als wenn Du vor mir sitzt mein Freund. Danke für Deine Worte, ich werde sie oft lesen.

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